Der systematische Vergleich ist die vielleicht grundlegendste aller wissenschaftlichen Methoden und nicht nur der wissenschaftlichen Methoden, denn ohne einen Vergleich weiß man in der Regel nicht, wo man steht. Die Anzahl der Mörder für Deutschland sagt wenig aus, wenn man sie nicht mit der Anzahl der Straftaten, der Anzahl der Bevölkerung oder der anderer Länder vergleicht. Noch wichtiger als zur Einordnung absoluter Zahlen ist ein Vergleich aber, wenn es darum geht sich auf die Suche nach Ursachen zu machen. Ohne den Vergleich von Gruppen der Bevölkerung oder von Merkmalen die Teile der Bevölkerung auszeichnen, andere dagegen nicht, ist es nicht möglich, Erklärungen für einen Sachverhalt, z.B. für die Mortalität von COVID-19 Erkrankten zu finden.
Man stelle sich zwei Länder mit unterschiedlicher COVID-19 Mortalität vor, die sich zudem im Hinblick auf das durchschnittliche Alter ihrer Bevölkerung oder die Anzahl derjenigen, die Bluthochdruck infolge von Fettleibigkeit oder die Anzahl von Personen, die mit einem Spenderorgan leben, unterscheiden. Möglicherweise findet sich in den zuletzt genannten Unterschieden die Erklärung für den zuerst genannten Unterschied. Um dies herauszufinden, muss man einen Vergleich anstellen. Bis heute gilt z.B. in der empirischen Politikwissenschaft der internationale Vergleich als Königsweg, vielleicht wird er deshalb nur noch von wenigen beschritten – man ist eben bescheiden geworden …
Wie dem auch sei, ein erster Schritt in Richtung internationaler Vergleich der Erforschung der Ursachen unterschiedlicher COVID-19 Mortalitäten ist gerade gemacht worden, und zwar von Jérémie F. Cohen, Daniel A. Korevaar, Soraya Matczak, Josephine Brice, Martin Chalumeau und Julie Toubiana. Sie haben das mühselige Geschäft auf sich genommen und Daten zur Verteilung der COVID-19 Toten aus offiziellen Stellen und von 13 europäischen Ländern gesammelt. Wie so oft, fällt dabei Deutschland heraus. Während für 12 europäische Länder Daten von spätestens dem 2. April vorliegen, die Mehrzahl hat bereits Daten zum 5. und 6. April veröffentlicht (Redaktionsschluss für die Arbeit von Cohen et al. war der 6. April), gibt es für Deutschland nur Daten bis zum 29. März. Transparenz und Geschwindigkeit sind zwei Unbekannte im deutschen administrativen Kontext.
Die folgende Aufstellung gibt die Fallzahlen der Gestorbenen und das Datum, auf das sie sich beziehen, an, auf denen die anschließende Abbildung basiert, die wir auf Grundlage der Ergebnisse von Cohen et al. erstellt haben.
- Italien (5. April): 14.381
- Vereinigtes Königreich (6. April): 4.897
- Spanien (3. April): 3.953
- Frankreich (2. April): 3.523
- Niederlande (6. April): 1.867
- Belgien (6. April): 1.632
- Schweiz (6. April): 583
- Deutschland (29. März): 389
- Portugal (3. April): 311
- Schweden (3. April): 190
- Griechenland (5. April): 73
- Ungarn (6. April): 38
- Finnland (6. April): 27
Die Altersverteilung haben die Autoren für die Altersgruppen der unter 40-jährigen, der 40-69jährigen und derjenigen, die 70 Jahre oder älter sind, erstellt. Das Ergebnis sieht wie folgt aus:
Die große Mehrheit der an COVID-19 Verstorbenen war zum Zeitpunkt ihres Todes 70 Jahre oder älter. Das ist so ungefähr das Ergebnis, das zu erwarten war. Interessant sind jedoch weniger die Gemeinsamkeiten als die doch recht großen Unterschiede, die sich z.B. zwischen Schweden, Ungarn, Griechenland und Italien auf der einen Seite und den restlichen Ländern auf der anderen Seite ergeben. Der Anteil der 40 bis 69jährigen unter den COVID-19 Toten ist in den genannten Ländern deutlich höher als im Rest der berücksichtigten Länder. Es wird interessant sein zu sehen, ob sich im weiteren Verlauf der Pandemie die Altersverteilungen zwischen den Ländern angleichen werden.
Im nächsten Schritt wäre nun eine Analyse notwendig, in der für die 13 Länder, die oben genannt sind, die Anteil an COVID-19 Erkrankten zusammengetragen werden, die beatmet wurden, die eine ernsthafte Vorerkrankung hatten und so weiter. Auf dieser Grundlage könnte man dann belastbare Aussagen darüber machen, welche Rolle Ko-Morbiditäten im Zusammenhang mit der Sterblichkeit an COVID-19 tatsächlich zukommt, welche Ko-Morbiditäten sich vorzugsweise im Zusammenhang mit COVID-19 finden und ob unterschiedliche Verteilungen von Ko-Morbiditäten in einem Zusammenhang mit der unterschiedlichen Anzahl an COVID-19 Verstorbener stehen.
Ein interessantes Ergebnis sei noch erwähnt. Die hohe Sterblichkeit in Italien wird zuweilen auch auf den mit 7,2% in Italien sehr hohen Anteil der über 80jährigen zurückgeführt. Die Ergebnisse von Cohen et al. (2020) zeigen für Italien einen vergleichsweise hohen Anteil von 40 bis 69jährigen unter den Toten. Der hohe Anteil sehr alter Menschen in der italienischen Gesellschaft kann also bestenfalls ein Teil der Erklärung für die hohe Mortalität in Italien sein.
Cohen, Jérémie F., Korevaar, Daniel A., Matczak, Soraya, Brice, Joséphine, Chalumeau, Martin & Toubiana, Julie (2020). COVID-19 related mortality by age groups in Europe: A meta-analysis.
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