Stanford, Gangelt, COVID-19: Viel Lärm um herzlich wenig Ergebnis

Wie verbreitet ist SARS-CoV-2?
Eine Frage, keine Antwort, denn niemand weiß es.

Die Verbreitung ist eine Funktion dessen, was man als Ansteckungs-Möglichkeitsraum bezeichnen kann. Je besser die Bedingungen für SARS-CoV-2, sich zu verbreiten, desto mehr Infizierte. Die Menge der Infizierten ist eine Funktion der Menge sozialer Kontakte. Durch die Reduzierung sozialer Kontakte ist der Ansteckungs-Möglichkeitsraum für SARS-CoV-2 kleiner worden.

Dessen ungeachtet gibt es eine Menge X der Bevölkerung, die mit SARS-CoV-2 infiziert ist.
Menge X besteht aus:

  • Asymptomatischen SARS-CoV-2 Infizierten;
  • Infizierten mit leichten Symptomen;
  • Infizierten mit einer milden Erkrankung;
  • Infizierten, die eine stationäre Behandlung benötigen;
  • Infizierten, die verstorben sind;

Die Dunkelziffer steigt von unten nach oben. Während die Anzahl derjenigen, die an COVID-19 verstorben sind, zumindest weitgehend bekannt ist, mit Ausnahme der Bewohner von Altenheimen, die ungetestet verstorben sind, wird die Unbekannte, die sich mit der Verbreitung von SARS-CoV-2 verbindet, von unten nach oben immer größer.



Zudem ist eine Pandemie ein IN DER ZEIT STATTFINDENDER PROZESS, d.h. die Dunkelziffern und die Anzahl der bekannten Fälle in jeder der fünf Kategorien verändern sich ständig. Jeder Versuch, sich einen Überblick zu verschaffen, ist somit bestenfalls eine Momentaufnahme für einen bestimmten Ort zu einer bestimmten Zeit. Nicht mehr.

Schließlich ist die Verbreitung von SARS-CoV-2, der Ansteckungs-Möglichkeitsraum, wie wir gesagt haben, lokal unterschiedlich. In Gangelt hat SARS-CoV-2 durch eine Karnevalsveranstaltung vermutlich gute Bedingungen vorgefunden. Alle Zeichen sprechen dafür. Indes sagt diese Feststellung nichts darüber aus, wie verbreitet SARS-CoV-2 im Kreis Südliche Weinstraße ist, wo man Pfälzer Gemütlichkeit pflegt.

Die Aufgabe besteht darin, einen möglichst guten Überblick darüber zu finden, wie weit verbreitet die Ansteckung mit SARS-CoV-2 in einer Bevölkerung ist, wobei gilt:

  • Infektionsraten sind lokal verschieden;
  • Die Altersverteilung auf den fünf oben genannten Gruppen von Infizierten ist verschieden (alte Menschen sterben häufiger an COVID-19 als junge Menschen, junge Menschen haben häufiger einen Krankheitsverlauf mit leichten Symptomen als alte Menschen);

Bereits auf Basis dieser beiden Kriterien kann man feststellen, dass Einzelfallstudien, die nur eine Region berücksichtigen, keine ausreichende Grundlage darstellen, um daraus irgend etwas über diese Region Hinausgehendes abzuleiten.

Der Versuch, Licht in das Dunkel der Verbreitung von SARS-CoV-2 zu bringen, wird in der letzten Zeit mit Antikörper-Tests unternommen, wobei sowohl der in Gangelt (Streeck-Studie) als auch der in Santa Clara County (Stanford-Studie, Ioannidis et al.) genutzte Test bislang nicht zugelassen ist.

Dessen ungeachtet verbindet sich mit Antikörper-Tests ein Erkenntnisgewinn, denn ein solcher Test ermöglicht es, zumindest in der Theorie, alle fünf oben genannten Gruppen zu erfassen, theoretisch, wie gesagt, denn praktisch fallen diejenigen, die schwer erkrankt sind und diejenigen, die sich in Selbstquarantäne befinden, die es in den USA sehr häufig gibt, aus.

Dieses Problem zeigt sich besonders bei der Santa Clara County Studie, die John P.A. Ioannidis und 16 Ko-Autoren durchgeführt haben. Die für die Studie wichtigen Randbedingungen sind die folgenden:

  • Die Teilnehmer für die Studie wurden auf Facebook mit gezielter Werbung gewonnen;
  • Letztlich basieren die Ergebnisse auf 3.330 Personen aus Santa Clara County die über Facebook rekrutiert wurden;
  • Den 3.330 Personen wurde Blut in einem “drive-through” entnommen;
  • Die Blutproben wurden mit dem Test-Kit von Premier Biotech aus Minneapolis analysiert;
    • Die Akkuratheit ist laut Herstellerangaben höher als die bei einem Test im Stanford Hospital ermittelte Akkuratheit;
  • Die Stichprobe zeichnet sich durch die folgenden Besonderheiten aus:
    • 63,1% der Teilnehmer sind weiblich (49,5% in der Bevölkerung von Santa Clara County sind weiblich);
    • 76,3% der Teilnehmer sind im Alter von 19 bis 64 Jahre (62,3% der Bevölkerung von Santa Clara fallen in diese Alterskategorie);
    • 64,1% der Teilnehmer sind Weiße (33,1% der Bevölkerung von Santa Clara sind weiße);
  • Die verzerrte Stichprobe hat die Autoren dazu veranlasst, eine sehr, wirklich sehr krude Gewichtung durchzuführen, die zum Ergebnis hat, dass in Abhängigkeit von der Postleitzahl Männer, die an der Studie teilgenommen haben, in den Ergebnissen dreimal gezählt werden, um die Verzerrung der Stichprobe auszugleichen;

Wir wissen aus den USA, aufgrund der Daten, die vom dortigen Center for Disease Control and Prevention veröffentlicht werden, dass die Wahrscheinlichkeit einer positiven Testung auf SARS-CoV-2 mit dem Alter steigt. Der Anteil der positiv Getesteten ist, wie die folgende Abbildung zeigt, unter Personen, die 65 Jahre und älter sind, am höchsten. Diese Gruppe ist in der Stichprobe von Ioannidis et al. (2020) unterrepräsentiert, und zwar erheblich: 5% der Teilnehmer an der Studie von Ioannidis sind über 65 Jahre oder älter im Vergleich zu 12,9% im Santa Clara County.

Quelle CDC
Ioannidis et al. (2020).

Obwohl die Autoren in den Giftschrank der Datengewichtung greifen, gewichten sie nicht nach Alter. Das ist vielleicht auch besser so, denn, wie gesagt, die Art der Gewichtung erinnert eher daran, dass jemand ein Bild zerschneidet, um es in einen viel zu kleinen Rahmen einzupassen.

Die Gewichtungsgleichung setzt die relativen Anteile der Bevölkerung unterschieden nach Postleitzahl (z), Geschlecht (s) und Rasse (r) für die Stichprobe (S) ins Verhältnis zu den entsprechenden Anteilen im County Santa Clara (C). Von Alter ist weit und breit nichts zu sehen und tatsächlich schreiben die Autoren: “We did not account for age imbalance in our sample, and could not aescertain representativeness of SARS-CoV-Antibodies in the homless population”.

Das, mit Verlaub, ist eine heftige Untertreibung, denn neben den Obdachlosen fehlen in der Stichprobe von Ioannidis et al. (2020):

  • Personen, die keinen Facebook-Account haben;
  • Personen, die schwer an COVID-19 erkrankt sind;
  • Personen, die in Selbstquarantäne sind;
  • Personen, die kein Fahrzeug zur Verfügung haben, um zum drive through zu fahren, an dem die Blutentnahme stattfindet;
  • um nur einige zu nennen;

Das sind in den meisten Fällen alte Menschen, also genau diejenigen, die von SARS-CoV-2 am stärksten heimgesucht werden. Die Ergebnisse basieren somit (trotz oder wegen Gewichtung) nicht – wie von den Autoren behauptet – auf einem repräsentativen Querschnitt der Bevölkerung von Santa Clara County, sondern auf einem Querschnitt der über Facebook-Vernetzten, bei denen es sich zu 61,3% um junge und mittelalte Frauen handelt, und somit abermals um eine Gruppe, die unter COVID-19 weniger zu leiden hat als z.B. Männer. Die Ergebnisse aus Santa Clara County sind somit, wie die Autoren selbst einräumen, bestenfalls ein erster Schritt, der zeigt, dass man den Schritt über die Testung von Antikörper gehen zu können scheint. Die Ergebnisse können benutzt werden, um das Dunkel, das die Verbreitung von SARS-CoV-2 umgibt, ein wenig aufzuhellen.



Die Ergebnisse, die die Autoren in ihrer Stichprobe erhalten, unterscheiden sich je nach Szenario, das sie benutzen, um ihre Ergebnisse hochzurechnen:

  • S1: Unter der Annahme, dass die Daten des Herstellers der Test-Kits richtig sind, ergibt sich eine Verbreitung von SARS-Cov-2 in der Stichprobe, die zwischen 1,8% und 3,17% variiert.
  • S2: Unter der Annahme, dass der Test-Kit des Herstellers nicht so akkurat ist, wie von diesem behauptet, sondern eine nur 81%ige Trefferquote aufweist, ergibt sich eine Verbreitung von SARS-CoV-2 in der Stichprobe, die zwischen 2,58% und 5,7% liegt;
  • S3 kombiniert die beiden Annahmen aus S1 und S2, zwangsläufig ergibt sich ein Mittelding zwischen beiden Ergebnissen, nämlich eine Verbreitung von SARS-CoV-2 in der Stichprobe, die zwischen 2,01% und 3,49% liegt;

Das sind alles Zahlenspiele, die nicht wirklich dazu beitragen, viel Neues über die Verbreitung von SARS-CoV-2 zu erfahren. Ausgehend von diesen Ergebnissen rechnen die Autoren auf die Rate derjenigen hoch, die positiv auf SARS-CoV-2 getestet worden wären, wäre die gesamte Bevölkerung von Santa Clara County getestet worden. Das ist ein weiteres Rechenspiel ohne Wert, denn die Verzerrung der Stichprobe, die oben berichtet wurde, reicht eigentlich, um deutlich zu machen, dass eine Hochrechnung der Ergebnisse irgendwo zwischen unverantwortlich und willkürlich liegt. Was von Aussagen wie der, dass die tatsächliche Zahl der positiv Getesteten am 1. April im Santa Clara County um das 50 bis 85fache geringer war als die Zahl, die Ioannidis et al. auf Grundlage ihrer Stichprobe errechnen, zu halten ist? Niemand weiß es. Indes sind Ergebnisse, die einen Schwankungsbereich von 68,7% aufweisen, nicht unbedingt das, worauf wir wetten würden.

Die Case Fatality Rate, die Ioannidis et al. berechnen, variiert zwischen 0,12% und 0,2% und basiert auf der Annahme, dass in den offiziellen Zahlen alle COVID-19 Tote abgebildet werden, sie schwankt um 66,7% und stellt somit ebenfalls das dar, was man anhand normaler statistischer Kriterien von Validität und Reliabilität nicht als verlässliches und gültiges Ergebnis ansehen wird.

Dessen ungeachtet zeigt die Studie von Ioannidis et al., dass ein flächendeckender Test auf Antikörper durchgeführt für eine ausreichende Zahl von Bürgern, das wären im Minimum 1% der Bevölkerung eines Landes, Aufschlüsse über die Verbreitung von SARS-CoV-2 bringen kann. Aber das wussten wir auch schon bevor die Studie aus Stanford durchgeführt wurde.


Bendavid, Eran, Mulaney, Bianca, Sood, Neeraj, Shah, Soleil, Ling, Emilia, Bromley-Dulfano, Rebecca, Lai, Cara, Weissberg, Zoe, Saavedra-Walker, Rodrigo, Tedrow, Jim, Tversky, Dona, Bogan, Andrew, Kupiec, Thomas, Eichner, Daniel, Gupta, Ribhav, Ioannidis, John P.A. & Battacharya, Jay (2020). COVID-19 Antibody Seroprevalence in Santa Clara County, California.


Im Gegensatz zur Santa Clara County Studie hat Hendrik Streeck in seiner Studie, die in Gangelt durchgeführt wurde, gar nicht erst versucht, die Schimäre repräsentativer Ergebnisse aufzubauen. Der Ansatz von Streeck ist der einer Einzelfallstudie, bei der versucht wird, eine Vollerhebung für einen eng umgrenzten lokalen Bereich umzusetzen. Leider ist dies in Gangelt und obwohl es dort nur rund 600 Haushalte gibt, nicht gelungen. “Ca. 1000” Einwohner, so schreibt Streeck in dem wenigen, was als “Vorläufiges Ergebnis” veröffentlicht wurde, aus “ca. 400” Haushalten nahmen an der Studie teil.

Die offizielle Einwohnerzahl der Gemeinde Gangelt wird mit rund 2.600 angegeben, d.h. Streecks Studie basiert nicht einmal auf der Hälfte der Einwohner von Gangelt. Auf Basis der “ca. 1000 Einwohner aus ca. 400 Haushalten” ergibt sich eine Case Fatality Rate von 0,37%, wobei 14% der von Streecks Team auf Antikörper untersuchten Einwohner Gangelts eine Infektion mit SARS-CoV-2 hatten. Positiv Getestet waren ca. 2%, was bedeuten würde, dass nur 14,2% der SARS-CoV-2 Infizierten überhaupt getestet wurden. Die Dunkelziffer beträgt demnach gut 86%.

Was man auf Basis dieser Ergebnisse, für die keinerlei Daten zur Verteilung der Studienteilnehmer z.B. nach Alter vorliegen, schließen kann? Dass unter rund 1000 Einwohnern von Gangelt rund 140 Einwohner sind, die Antikörper gegen SARS-CoV-2 gebildet haben, während nur 20 Einwohner bislang überhaupt auf SARS-CoV-2 (mittels RT-PCR-Test) getestet wurden. Abermals ist alles, was darüber hinausgeht, ein Rechenspiel, wie sich schon daran zeigt, dass die Ergebnisse aus Gangelt deutlich von den Ergebnissen aus Santa Clara County abweichen. Die Case Fatality Rate ist nahezu doppelt so hoch. Der Anteil der positiv auf Antikörper Getesteten ist in Gangelt 4 Mal so hoch wie in Santa Clara County (gerechnet auf Szenario S3). 


Streeck, Hendrik, Hartmann, Gunther, Exner, Martin & Schmid, Matthias (2020). Vorläufiges Ergebnis und Schlussfolgerungen der COVID-19 Case-Cluster-Study.


Was man mit solchen Ergebnissen macht?

Wir wissen es nicht. Aber wir haben keinen Zweifel, dass sich diejenigen, die behaupten, es sei alles nur Panik, natürlich auf die Case Fatality Rates (CFR) stürzen werden, um zu belegen, dass alle Maßnahmen übertrieben sind, wenngleich selbst die CFR aus Santa Clara das Doppelte der CFR einer Influenza Epidemie ist (die aus Gangelt das Vierfache). Diejenigen, die versuchen, eine Pandemie einzudämmen, werden aus beiden Studien wenig bis gar nichts entnehmen können, außer, dass es über Antikörper-Tests möglich ist, eine Momentaufnahme über die Verbreitung von SARS-CoV-2 zu einem bestimmten Zeitpunkt an einem bestimmten Ort zu erstellen. Was eine solche Momentaufnahme im Rahmen einer Pandemie, die sich entwickelt, zu leisten vermag? Politisch vermutlich viel, erkenntnistheoretisch eher wenig.



Fakten zu SARS-CoV-2/COVID-19:



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