War die Quarantäne in Deutschland effizient oder unnötig? [Neue Studie]

 Die Ergebnisse in Kürze:

  • Quarantänemaßnahmen  sind effektiv und waren auch in Deutschland effektiv;
  • Die Effektivität hängt vom Zeitpunkt der Einführung der Maßnahmen ab;
  • Quarantänemaßnahmen erreichen einen Sättigungspunkt, ab dem sie keinen zusätzlichen Beitrag zum Rückgang einer Epidemie mehr leisten können;

Kaum jemand hat an der Notwendigkeit, Quarantäne-Maßnahme zu ergreifen, um die Verbreitung von SARS-CoV-2 zu verhindern zu dem Zeitpunkt gezweifelt, zu dem sie eingeführt wurden. Zu groß schien die Gefahr eines exponentiellen Wachstums. Indes, je länger die Quarantäne in Deutschland angehalten hat, desto lauter wurden Zweifel angemeldet. Die Tatsache, dass das Robert-Koch-Institut sich aller verfügbaren Daten bemächtigt und versucht hat, eine Art “Deutungsmonopol” zu errichten, war dabei sicher nicht hilfreich.

Nun könnte man aus der Tatsache, dass Deutschland ähnliche Sterberaten wie Italien oder dem Vereinigten Königreich erspart geblieben sind, eigentlich den Schluss ziehen, dass die Maßnahmen, wie ad-hoc sie auch gewesen sein mögen, erfolgreich waren und von daher eine Basis bereitstellen, auf der man nunmehr daran gehen kann, SARS-CoV-2 in seiner Ausbreitung zu kontrollieren, bis ein Impfstoff gefunden ist. Nicht in Deutschland. Bislang 6.866 Tote gelten manchen als zu wenige, so dass sie nun, im Nachhinein und nun, da die Gefahr, von der Realität schnell widerlegt zu werden, erst einmal geringer geworden ist, anzweifeln, dass die Quarantäne und alle Maßnahmen, die wirtschaftlichen Schaden verursacht haben und weiter verursachen werden, notwendig gewesen seien.



In dieser Situation kommt eine neue Studie aus Litauen gerade richtig. Algis Džiugysa, Martynas Bieliūnasb, Gediminas Skarbaliusa, Edagaras Misiulisa, Robertas Navakas haben sie gestern auf medRxiv veröffentlicht, und wir besprechen sie schon heute. “Simplified model of COVID-19 epidemic prognosis under quarantine and estimation of quarantine effectiveness“, so lautet der Titel der Studie, in deren Zentrum ein mathematisches Modell steht – also nichts für Genderista und all diejenigen, die den Effekt der Quarantäne im Einklang mit der von ihnen vertretenen Ideologie erfühlen wollen.

Das Modell der fünf Mannen aus Litauen ist ein sogenanntes SIR-Modell (susceptible, infectious, removed), bei dem eine zu Grunde liegende Population im Verlauf der Zeit infizierbar, infizierend oder neutralisiert (entweder durch überstandene Krankheit und gewonnen Immunität oder durch Tod) ist bzw. ein Teil der Bevölkerung diese Zustände durchläuft. Das SIR-Modell ist das Standardmodell, das bei epidemiologischen Modellrechnungen in der Regel zum Einsatz kommt. Es ist mittlerweile ein alter Bekannter.

Für das Verständnis der Ergebnisse, die wir nun präsentieren, ist die Mathematik nicht besonders wichtig. Einen Teil davon haben wir bereits im Zusammenhang mit der Frage dargestellt, wie R0 berechnet wird. Für das Grundverständnis der Arbeit der fünf Litauer reicht es aus, die folgenden Parameter zu kennen.

  • α0 steht für die Wachstumsrate der Verbreitung von SARS-CoV-2 zu Beginn der Epidemie. Zu diesem Zeitpunkt ist α0 größer als 1. SARS-Cov-2 verbreitet sich exponentiell (wer denkt α0 ist eine andere Notation für R0 hat in Teilen recht – Die Berechnung ist eine andere, so dass keine Vergleichbarkeit gegeben ist. Beide Werte können dennoch in gleicher Weise interpretiert werden.).
  • αq steht für die Wachstumsrate der Verbreitung von SARS-CoV-2 nach Einführung der Quarantäne.
  • eq denotiert die Effektivität einer Quarantäne, also die gesuchte Größe: eq = 1 – αq0;
  • nid ist die Anzahl der Neuinfektionen, die für den nächsten Tag erwartet werden, nid ist eine Funktion aus β, das Stammlesern von ScienceFiles schon aus der Erklärung, wie R0 berechnet wird, bekannt ist. Wer nicht (mehr) weiß, wie β berechnet wird, der kann das hier nachlesen. Im Modell der Litauer, ein SIR-Modell, das zur Erinnerung, wird β als Quotient der Neuinfizierten zu einem bestimmten Zeitpunkt und der Gesamtzahl der Infizierten zu diesem Zeitpunkt berechnet.
  • Entsprechend ergibt sich für nid die schlichte Berechung als Produkt aus β und der Anzahl der Infizierten I.

Soweit so gut.

Alle weiteren Annahmen können hier nachgelesen werden. An dieser Stelle mag es ausreichen festzustellen, dass das Modell von Džiugysa et al. ein konservatives Modell ist, das den Effekt eher unter- als überschätzt.
Um die Effektivität der Quarantäne zu berechnen,

  • ist es notwendig, den Zeitpunkt der Quarantäne in Verbindung zu bringen mit dem Start der Epidemie in einem Land.
  • Es ist notwendig, die Wachstumsrate αm zum Zeitpunkt der Implementierung der Quarantäne zu berechnen;
  • Es ist notwendig, die Wachstumsrate nach Einführung der Quarantäne αq zu bestimmen und den Anteil bq des Rückgangs der Wachstumsrate zu berechnen, der auf die Quarantäne zurückzuführen ist.

Die folgenden Abbildungen stellen die genannten Werte für Deutschland, Italien und Schweden zusammen.

Die Abbildungen zeigen die berechneten Werte und jeweils einen geglätteten Moving Average auf Basis von sieben Tagen, um Schwankungen in den Fallzahlen, die durch die Berichterstattung verursacht werden, auszugleichen.

Zu Beginn der Quarantäne am 23. März beträgt die Wachstumsrate in Deutschland 1.058, liegt somit über 1 und im Bereich exponentiellen Wachstums. Wie man der linken Abbildung oben entnehmen kann, wurde die Quarantäne zu einem Zeitpunkt eingeführt, zu dem die Anzahl der Neuinfektionen noch ein exponentielles Wachstum aufgewiesen hat.

Der direkte Effekt der Quarantäne besteht in einer Reduzierung der Ausbreitung von SARS-CoV-2 um bq = 0.0069, das stellt eine Reduktion um 0,6% an Neuinfektionen pro Tag, die die Quarantäne andauert, dar. Der Wert 0.948 gibt die Wachstumsrate für den Zeitpunkt an, zu dem die tägliche Wachstumsrate der Wachstumsrate der Quarantäne entspricht, sprich den Zeitpunkt, ab dem eine Quarantäne keine zusätzliche Wirkung mehr entfaltet. Mit 0.948 ist der Wert für αm recht hoch, wie sich im Vergleich zu anderen Ländern zeigt.



Zusammengefasst bedeutet dieses Ergebnis:

  • Die Quarantäne in Deutschland hat das exponentielle Wachstum der Verbreitung von SARS-CoV-2 gestoppt, sie war also wirkungsvoll.
  • Die die Neuinfektionen reduzierende Wirkung ist etwa 11 Tage nach Einführung der Quarantäne eingetreten;
  • Rund 18 Tage nach Einführung der Quarantäne ist der Sättigungspunkt, das maximal mögliche an zusätzlicher Reduzierung von αm eingetreten.
  • mit 0.948 ist der entsprechende Wert der Wachstumsrate recht hoch;

Die folgende Abbildung zeigt die Entwicklung in Italien.

Die Ergebnisse zeigen, dass

  • die Einführung der Quarantäne in Italien zu spät erfolgt ist;
  • es deshalb rund 18 Tage gedauert hat, ehe überhaupt ein Effekt der Quarantäne sichtbar wurde
  • die Reduktion der Wachstumsrate der Verbreitung von SARS-CoV-2 mit bq = -0.0114 deutlich höher ausfällt als in Deutschland (Es entspricht einer täglichen Reduktion um 1,0%);
  • Dies ist der Tatsache geschuldet, dass Italien zu Beginn der Quarantäne im exponentiellen Wachstum weiter vorangeschritten war als Deutschland, wie der Anfangswert für αm zu Beginn der Quarantäne mit 1.181 deutlich zeigt;
  • Nach rund 20 Tagen Quarantäne ist es in Italien nur gelungen, die Wachstumsrate in der Quarantäne auf 0.973 zu drücken, ein sehr hoher Wert, der die Vermutung nahelegt, dass die Verbreitung von SARS-CoV-2 in Italien nicht hinreichend reduziert worden ist. Ob diese Vermutung zutrifft, wird sich in den nächsten Wochen zeigen.

Last, but not least: Schweden;

Um kaum ein Land rankt sich aktuell so viel Diskussion wie um Schweden, denn Schweden, obwohl die Todesrate pro 1.000.000 Einwohner in Schweden sehr hoch ist, gilt vielen als Beleg dafür, dass es der Einführung einer Quarantäne gar nicht bedurft hätte. Die Ergebnisse von Džiugysa et al. zeigen, dass dies nicht zutrifft. Maßnahmen, die man als Reaktion auf SARS-CoV-2 ansehen kann, hat die Schwedische Regierung bereits am 10. März getroffen, eine Quarantäne gibt es in Schweden indes nicht.

Als Folge kann kein Effekt einer Quarantäne bestimmt werden, αm = αq = 0. Die Maßnahmen haben eine Reduzierung der Ansteckungsrate um bq = 0.0025 zur Folge, was einem Rückgang in der Wachstumsrate der Infektionen von 0,2% pro Tag entspricht. Folgerichtig ist die exponentielle Verbreitung von SARS-CoV-2 zwar etwas reduziert, aber weiterhin gegeben. Wohin das schwedische Experiment führt, ist eine Frage, die die nächsten Wochen beantworten werden, dass es auf Kosten derjenigen durchgeführt wird, die ein hohes Risiko haben, bei Erkrankung an COVID-19 zu sterben, zeigt die mit 265 pro 1.000.000 Einwohnern sehr hohe Mortalitätsrate, die höher ist als die von Norwegen (39 / 1.000.000), Dänemark (84 / 1.000.000) oder Deutschland (82 / 1.000.000).

Kurz: Die Quarantänemaßnahmen in Deutschland haben die Verbreitung von SARS-CoV-2 zu einem Zeitpunkt reduziert, zu dem noch ein exponentielles Wachstum der Ansteckungsrate gegeben war. Die Quarantäne war effektiv, hat nunmehr aber den Punkt erreicht, ab dem die Reduktion der Ansteckungsrate nur noch im Schneckentempo vorangehen kann. Die Alternative, die sich bei einer völligen Aufhebung aller Maßnahmen sozialer Distanz bietet, ist indes eine Rückkehr zum exponentiellen Wachstum der Verbreitung von SARS-CoV-2.




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