Ein neues Coronavirus wie SARS-CoV-2, von dem so viele längst überzeugt sind, dass es (für sie) harmlos ist, gleicht einer Reise in ein unbekanntes Land: Man weiß nicht, was hinter der nächsten Biegung wartet (oder lauert). Das macht Situationen wie die derzeitige für Wissenschaftler sehr spannend, denn jeder Tag bringt neue Erkenntnisse, einen neuen Blick auf einen Teil des Phänomens, der bislang verborgen war. Es ist inkrementeller Erkenntnisfortschritt, der für denjenigen, der der Forschung folgt, wie ein Fortsetzungsroman ist.
Zuweilen gibt es auch einen Cliffhanger.
Wir berichten heute über einen, der eine besorgniserregende Entwicklung zum Gegenstand hat.
Die New York Times schreibt dazu: “When the coronavirus pandemic began ravaging the New York area two months ago, the state found solace in the initial evidence that children would be largely unaffected. That sense of relief was shattered this week when a 5-year-old died in New York City of the newly discovered disease, which doctors described as a “pediatric multisystem inflammatory syndrome.” The inflammation of the blood vessels, Mr. Cuomo said, causes “problems with their heart.””
Mittlerweile sind drei weitere Kinder zu den Toten hinzugekommen, 73 Kinder und Jugendliche befinden sich auf Intensivstationen in Krankenhäusern in New York. Das neue Syndrom ist insofern nicht neu, als dieselbe Beobachtung im Vereinigten Königreich gemacht wurde und von Shelley Riphagen, Xabier Gomez, Carmen Gonzales-Martinez, Nick Wilkinson und Paraskevi Theocharis in einer Mitteilung an den Herausgeber des Lancet, die am 6. Mai veröffentlicht wurde, bekannt gemacht wurde.
Mitte April, so schreiben Riphagen et al., sei ihnen eine bislang nicht dagewesene Häufung von Fällen bekannt geworden, die Kinder an einer extremen Form von Entzündung erkranken sieht. Sie nennen die Erkrankung einen Hyper-Entzündungsschock. Acht Kinder gehören zur ersten Häufung, von der die Autoren berichten, mittlerweile sind mindestens 20 mehr für den Südosten von England bekannt geworden. Die Kinder und Jugendlichen sind im Alter von 4 bis 14 Jahren, haben keine Vorerkrankung, 5 der 8 Kinder sind Jungen, ein Junge im Alter von 14 Jahre und ein Mädchen im Alter von 13 Jahren sind (leicht) übergewichtig.
Alle acht Kinder haben weitgehend dieselben Symptome, nämlich hohes Fieber (bis zu 40 Grad Celsius), Durchfall, Bauchschmerzen und eine Bindehautenzündung. Die Bindehautentzündung resultiert aus der Einlagerung von Wasser im Gewebe (Ödem). Keines der acht Kinder hat Atembeschwerden oder Erkrankungen der oberen Atemwege entwickelt, dennoch mussten sieben der acht Kinder mechanisch beatmet werden, um ihren Kreislauf zu stabilisieren. Zusätzlich zur mechanischen Beatmung war eine Gabe von Noradrenalin und Milrinone notwendig. Letzteres stabilisiert die Herzfunktion, ersteres regt die Blutzirkulation an und erhöht den Blutdruck. Alle Kinder und Jugendlichen mussten mindestens drei und maximal sieben Tage auf einer Intensivstation behandelt werden. Der 14jährige, (leicht) übergewichtige Junge ist an den Folgen eines Gehirnschlags verstorben.
Riphagen et al. (2020) schlagen vor, die von ihnen beschriebene großflächige Entzündung von Bindehaut und multiplen Organen in Kindern und Jugendlichen als neue COVID-19 assoziierte Krankheit anzusehen, da vier der acht Kinder, darunter der verstorbene Junge, positiv auf SARS-CoV-2 getestet wurden und der Verdacht bestehe, dass die bislang negativ getesteten Kinder und Jugendlichen asymptomatische Träger des Virus seien:
“We suggest that this clinical picture represents a new phenomenon affecting previously asymptomatic children with SARS-CoV-2 infection manifesting as a hyperinflammatory syndrome with multiorgan involvement similar to Kawasaki disease shock syndrome” (2)
Riphagen, Shelley, Gomez, Xabier, Gonzalez-Martinez, Carmen, Wilkinson, Nick & Theocharis, Paraskevi (2020). Hyperinflammatory shock in children during COVID-19 pandemic.
Der verstorbene Junge war – wie oben berichtet – (leicht) übergewichtig. Diese Beobachtung führt zum nächsten Beitrag, den David A. Kass, Priya Duggal und Oscar Cingolani von u.a. der Johns Hopkins School of Medicine ebenfalls als Korrespondenz im Lancet veröffentlicht haben. Die drei Autoren, alle behandelnde Ärzte von COVID-19 Patienten in Universitätskrankenhäusern, berichten zunächst von ihrer Überraschung darüber, dass entgehen der Erwartung, die Intensivstationen ihrer Krankenhäuser nicht ausschließlich mit alten Menschen gefüllt wurden, sondern mit vielen jungen Menschen:
“However, as the pandemic hit the Johns Hopkins Hospital in late March 2020, younger patients began to be admitted to our ICU, many of whom were also obese”.
Diese Beobachtung hat die Ärzte dazu veranlasst, sich mit Ärzten der Universitätkliniken von Cincinnati, New York University, University of Washington, Florida und Pennsylvania in Verbindung zu setzen und in kurzer Zeit einen Datensatz von 265 COVID-19 Patienten, die auf den Intensivstationen der Krankenhäuser behandelt wurden, zusammenzustellen. Dabei hat die Ärzte und Autoren vor allem die Frage interessiert, welcher Zusammenhang sich zwischen Übergewicht und Alter für die COVID-19-Patienten auf Intensivstationen ergibt. Die Antwort auf die Frage sieht so aus:
Für junge Menschen steigt die Wahrscheinlichkeit, wegen einer COVID-19 Erkrankung auf einer Intensivstation zu landen mit dem Körpergewicht. Junge Menschen, die sich auf der Intensivstation einer der oben aufgezählten Kliniken befanden, hatten eine höhere Wahrscheinlichkeit, übergewichtig zu sein, als alte Menschen auf der Intensivstation. Wer den durchschnittlichen Umfang eines US-Amerikaners in Rechnung stellt, einem Land, in dem rund 40% der Bevölkerung als übergewichtig gelten, kann dieses Ergebnis erst richtig würdigen. Es ist daher kein Zufall, dass die drei Autoren der Ansicht sind, Übergewicht und Adipositas unter jungen Menschen könnte dazu führen, dass die nächste Welle der Erkrankung an COVID-19 junge Menschen in weit größerer Zahl umfassen wird, als dies bislang der Fall ist.
Kass, David A., Duggal, Priya & Cingolani, Oscar (2020). Obesity could shift severe COVID-19 disease to younger ages.
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