Herdenimmunität gegen SARS-CoV-2 längst erreicht? Studie aus Oxford bürstet gegen den Strich

Das Spannende an der Forschung zu SARS-CoV-2 und COVID-19 ist u.a., dass man nicht weiß, was einem nach der nächsten Kurve erwartet. Der kumulative und falsifiktorische Charakter empirischer Wissenschaft wird derzeit gerade wieder sehr deutlich. Ergebnisse, die gestern als gesichert galten, werden heute in Frage gestellt, neue Studien nähern sich dem Thema auf eine neue Weise, die indes ohne die Vorarbeiten, die in den letzten Monaten veröffentlicht wurden, nicht möglich wäre. Die Studie von José Lourenco, Francesco Pinotti, Craig Thompson und Sunetra Gupta ist eine solche Studie, die auf Vorarbeiten aufbaut und die geeignet ist, das, was bislang als sicheres Wissen zu SARS-CoV-2 gegolten hat, kräftig durchzuschütteln.

Die vier Autoren vom Department of Zoology der Universität Oxford haben Herdenimmunität untersucht. Herdenimmunität wird gemeinhin als der Punkt in einer Verteilung definiert, ab dem ein Virus sich nicht mehr von sich aus verbreiten kann. Wenn z.B. 80% der Bevölkerung gegen ein Virus immun sind, dann hat dieses Virus eine Chance von 20% auf jemanden zu stoßen, der nicht immun ist, was seine Fähigkeit, Verbreitung zu finden, erheblich einschränkt und die Gefahr einer Epidemie beseitigt. Bislang wird davon ausgegangen, dass im Zusammenhang mit SARS-CoV-2 eine Herdenimmunität von mindestens 70% notwendig ist, um die Verbreitung von SARS-CoV-2 ohne Impfstoff oder andere Maßnahmen einzudämmen.



Vor einigen Tagen haben wir Ergebnisse aus der REACT-Studie berichtet.120.610 Engländer haben an dieser Studie teilgenommen. Die Prävalenz von SARS-CoV-2 unter diesen 120.610 Engländern wurde auf Basis serontologischer Analyse, die das Vorhandensein von Antikörpern zum Gegenstand hat, auf 0,13% berechnet. Das ist nicht einmal in der Nähe von Herdenimmunität.

Herdenimmunität ist illusorisch, so muss man aus den Ergebnissen der REACT-Studie schließen.

Das muss man nicht. Die Arbeit von Lourenco et al. setzt einen anderen Schwerpunkt und baut auf einer Reihe von Ergebnissen auf, die die Forschung zu SARS-CoV-2 über die letzten Monate zusammengetragen hat. Die Ergebnisse gehen als Randbedingungen in ein mathematisches Modell ein, dessen Zweck darin besteht, die Schwellen für Herdenimmunität unter Zugrundelegung von Ergebnissen, die zur Verbreitung von SARS-CoV-2 gewonnen wurden, zu berechnen.

Nämlich die folgenden:

  • Das Risiko, an COVID-19 zu sterben, ist ungleich über Altersklassen verteilt;
  • Das Risiko, sich mit SARS-CoV-2 zu infizieren, ist in der Bevölkerung nicht gleich verteilt – deshalb sieht man lokale Hotspots;
  • Menschen, die bereits anderen Coronaviren als SARS-CoV-2 ausgesetzt waren, also SARS, MERS, HCoV-HKU1, HCoV-NL63, können eine Resistenz gegen Coronaviren entwickelt haben;
  • Andere Faktoren, wie eine angeborene Immunität oder eine reduzierte Anzahl von Angiotensin Converting Enzymen 2 (ACE-2) kann Menschen resistent gegen SARS-CoV-2 machen;

Auf Basis dieser Annahmen erstellen die Autoren ein mathematisches Modell, das im Wesentlichen um zwei Parameter rankt und auf jeweils zwei Sub-Populationen A und B aufbaut:

  • δ, das Ausmaß, in dem die Mitglieder von Sub-Population A untereinander beziehungsweise mit Mitgliedern aus Sub-Population B interagieren; Bleiben die Mitglieder einer Sub-Population vollständig unter sich (assortative mixing), dann nimmt δ den Wert 1 an, wird die Interaktion zwischen den Gruppen maximiert, dann nimmt δ den Wert 0 an; Zufällige Interaktionen treten auf, wenn δ = p, wobei p den Umfang der Sub-Population angibt.
  • Die Reproduktionszahl R0 gibt an, welches Verbreitungspotential das Virus in einer Sub-Population hat – sie formuliert somit eine ausgeschöpfte Obergrenze;
  • Die Sterberate wird über IFR und CFR, also infection fatality rates und case fatality rates und auf Basis aktueller Zahlen für das Vereinigte Königreich Sub-Populationen zugewiesen;


Das Ganze klingt mathematisch, und es ist mathematisch. Wir geben das Modell für diejenigen, die an solchen Modellen Freude haben, wieder. Wer daran keine Freude hat, kann einfach vorbeiscrollen und beim Lesen der Ergebnisse in Erinnerung behalten, dass die Ergebnisse eine Funktion der Annahmen sind, die wir oben beschrieben haben. Es hilft zudem, sich eine Grundannahme zu vergegenwärtigen, auf der die vorliegende Klasse von Modellen basiert: Wenn ein Pathogen durch eine Bevölkerung geht, dann wird es zunächst diejenigen infizieren, die am anfälligsten für das Pathogen sind. Ist diese Sub-Population ausgeschöpft, wird es für das Pathogen schwieriger, sich in einer Population zu verbreiten, was zu einem Automatismus des Aussterbens führt: die Zahl der Anfälligen in einer Population wird immer geringer, die Verbreitung per Infektion für das Pathogen immer schwieriger. Am Ende erledigt sich das Pathogen quasi von selbst.

Wenn man die Annahmen, die wir oben dargestellt haben, macht und sie dann wie gerade dargestellt formuliert, dann kommen dabei sehr interessante Ergebnisse heraus. Die folgende Tabelle stellt sie dar:

Proportionate mixing bildet zufällige Interaktionen/Kontakte zwischen Sub-Populationen ab, assortative mixing ist inklusive Interaktion in einer Gruppe, also der Situation mit geschlossenen Grenzen vergleichbar. p in der ersten Spalte gibt den Anteil der Personen an, die gegen eine Infektion mit SARS-CoV-2 immun sind. Was steht nun in der Tabelle?

  • Wenn niemand in der Population immun ist (p = 0) und keine Begrenzungen für die Interaktion in den Sub-Populationen vorhanden sind, dann liegt die Schwelle für Herdenimmunität bei einem R0 von 1,25 bei 20% der Bevölkerung. Mit steigendem R0 steigt die Schwelle bis sie 66% bei einem R0 von 3 erreicht.
  • Wenn 20% der Bevölkerung bei einem R0 von 1,25 immun sind, dann ist die Schwelle für Herdenimmunität bereits erreicht.
  • Wenn alle Kontakte auf die jeweilige Sub-Population beschränkt sind, dann ist bei einem R0 von 1,25 abermals dann, wenn 20% der Bevölkerung infiziert sind, der Schwellenwert erreicht, ab dem Herdenimmunität vorliegt.
  • Die Ergebnisse für “assortative Mixing”, also Kontakte, die auf die eigene Sub-Population beschränkt bleiben, unterscheiden sich von den Ergebnissen für zufällige Kontakte (proportional mixing) vornehmlich dadurch, dass mehr Grundimmunität in der Population notwendig ist, um Herdenimmunität zu erreichen.
  • Generell zeigen die Ergebnisse jedoch durchgängig, dass die Schwelle für Herdenimmunität viel tiefer liegt, als bislang angenommen.

Die Ergebnisse von Lourenco et al. (2020) stehen im Einklang mit Ergebnissen, zu denen Gomes et al (2020) gelangt sind. In der Arbeit von Gomes wird die Schwelle für Herdenimmunität sogar noch unter 20% verortet. Auf Basis der Sterbezahlen für das Vereinigte Königreich berechnen Lourcenco (im Supplementary Material) den Anteil der britischen Bevölkerung, der immun gegen SARS-CoV-2 ist, für den 19. März 2020 auf 7,1%. (Zwischenzeitlich gibt es im Vereinigten Königreich eine Untersuchung der offiziellen Sterbezahlen, da herausgekommen ist, dass Public Health England die Sterbezahlen inflationiert hat. Besonders offensichtlich ist dies im Fall eines Motorradfahrers, der von COVID-19 genesen in einem Verkehrsunfall ums Leben kam, aber dennoch als COVID-19-Toter in die Statistik eingegangen ist.)



Maßnahmen, die auf Grundlage des Modells von Lourenco et al. (2020) getroffen werden, haben ein vollkommen anderes Aussehen als Maßnahmen, die auf der Annahme basieren, dass die komplette Bevölkerung in gleicher Weise für SARS-CoV-2 anfällig ist. Das mag der Hintergrund dafür sein, dass Boris Johnson am Freitag ausgeschlossen hat, dass es im Vereinigten Königreich noch einmal einen landesweiten Lockdown geben wird. Das Schöne an Modellen wie dem von Lourenco et al. (2020) ist, dass es nicht notwendig ist, Annahmen über eine Durchseuchung der Bevölkerung zu machen. Indes basieren diese Modelle auf der Annahme, dass eine Infektion von einer Immunität begleitet ist, so dass ein einmal Infizierter sich nicht neu infizieren kann. An dieser Annahmen kann man indes begründete Zweifel haben. Eine von Jeffrey Seow et al. (2002) veröffentlichte Studie mit dem Titel “Longitudinal evaluation and decline of antibody responses in SARS-CoV-2 infection”, die wir in den nächsten Tagen besprechen werden, kommt zu dem Ergebnis, dass Immunität gegen eine Neuinfektion vornehmlich nur bei Personen zu finden ist, die eine schwere Erkrankung an COVID-19 durchlebt haben. Das notwendige Niveau an Antikörpern, um gegen eine Neuinfektion mit SARS-CoV-2 gewappnet zu sein, war zwei Wochen nach einer Erkrankung an COVID-19 noch bei 60% der Population im Sample von Seow et al. (2020) vorhanden. Drei Monate später ist dieses Niveau nur noch bei 17% vorhanden.

Es bleibt also spannend und unsere Leser bleiben in der Gruppe der am besten über SARS-CoV-2 Informierten.


Lourenco, José, Pinotti, Francesco, Thompson, Craig & Gupta, Sunnetra (2020). The impact of host resistance on cumulative mortality and the threshold of herd immunity for SARS-CoV-2.

Seow, Jeffrey et al. (2020). Longitudinal evaluation and decline of antibody responses in SARS-CoV-2 infection



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